VfB Stuttgart

Konflikt zwischen VfB-Ultras und Polizei Stuttgart: Wie kommt Druck vom Kessel?

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Die aktive Fanszene des VfB Stuttgart hat vor dem letzten Heimspiel gegen „Polizeiwillkür“ demonstriert. © Commando Cannstatt 1997

Zuletzt gab es immer wieder Konflikte, teiweise sogar heftige Zusammenstöße, zwischen Fußball-Fans und der Polizei. Die Lage knapp ein halbes Jahr vor der Heim-EM ist angespannt. Auch rund um den VfB Stuttgart. Wie konnte es so weit kommen und wie lässt sich Druck aus der Situation nehmen?

Wenn vor dem VfB-Stadion Pferdehufe klappern

Mitten auf der Mercedesstraße traben gemächlich zwei Pferde durch die Menge. Um sie herum pilgern Hunderte Fans erwartungsfroh ins Stadion zum Heimspiel gegen Werder Bremen. Mitunter müssen sie dabei den unschönen Hinterlassenschaften der Rösser auf der Straße ausweichen. Das Klackern der Hufe auf dem Asphalt will zudem nicht so recht in den klassischen Spieltags-Sound rund um die MHP-Arena passen. Ansonsten interessiert sich eigentlich niemand für die zwei berittenen Polizisten.

Wenige Meter entfernt sieht das anders aus. Trupps in voller Einsatzmontur haben sich in der Nähe des Fanshops beim Eingang zum Hilton-Hotel platziert. Um sie herum stehen Dutzende Anhänger. Einige haben Schilder mitgebracht. „Achtung Polizeiwillkür!“ steht da geschrieben. Oder: „Bitte nicht nötigen!“ Die Situation ist angespannt. Es liegt was in der Luft. Letztlich geht der Einsatz aber ohne Zwischenfälle über die Bühne.

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Der stille Protest der Stuttgarter Fanszene. © Commando Cannstatt 1997

Abschließend wird es von der Polizei heißen: „Das Bundesligaspiel zwischen dem VfB Stuttgart und Werder Bremen in der MHP-Arena am Samstagabend verzeichnete einen sicheren Verlauf ohne Störungen.“ Das war in letzter Zeit nicht immer der Fall. Womit wir zur Kernfrage kommen: Wie konnte der Konflikt zwischen der aktiven Fanszene der Schwaben und der Polizei Stuttgart dermaßen heißlaufen? Eine Recherche entlang der Spannungslinien zwischen Ultras und Polizei.

Ein Bedrohungsszenario, das überhaupt nicht existiert?

Eine zentrale Fragestellung, die mit Blick auf die jüngsten Vorfälle im VfB-Umfeld vorab geklärt werden muss: Schafft sich die Polizei hier ein Bedrohungsszenario, das nicht existiert? Die „Datensammlung Gewalttäter Sport“ (DGS), mit der die Polizei seit Jahren Informationen über Fußball-Fans sammelt, ist jedenfalls deutlich geschrumpft. In den letzten zehn Jahren hat sie sich laut einem Artikel der Sportschau sogar halbiert. So weit die Zahlen. Aber auch subjektiv betrachtet kann der Standort Stuttgart keineswegs als Problemfeld einsortiert werden. Sicherlich, auch in Stuttgart gibt es rund um Heimspiele in der MHP-Arena immer wieder Polizei-Einsätze oder abgebrannte Pyrotechnik. Massive Ausschreitungen – wie unlängst in Frankfurt – gab es jedoch nicht.

Dennoch wird bei Spielen in Bad Cannstatt regelmäßig das volle Programm aufgefahren: behelmte Beamte mit schwerer Schutzausrüstung, Wasserwerfer, Drohnen, Reiter-Staffeln. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit drängt sich fast schon auf – auch mit Blick auf die Kosten solcher Einsätze. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Gäbe es innerhalb der Fanszene nur kleine Engelchen, wäre ein solches Aufgebot vermutlich nicht nötig. Zumal die Polizisten ja auch für die allgemeine Sicherheit rund um ein Stadion mit Blick auf Verkehr und Terrorabwehr sorgen müssen.

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Ein Mannschaftswagen der Polizei am Stadion des VfB Stuttgart. Das Foto wurde vor dem Heimspiel gegen Werder Bremen aufgenommen (02.12.). © Danny Galm

Nach den Ereignissen der letzten Wochen müssen wir uns jedoch mit den Ursachen für die aktuelle Lage auseinandersetzen. Und um diesen Konflikt zu verstehen, muss man zunächst erklären, was es überhaupt heißt, Ultra zu sein. Wobei es hier schon kompliziert wird. Denn: Den typischen Ultra gibt es nicht, jede Gruppierung ist individuell. Es existieren politisch eher links orientierte Gruppen, aber auch rechtsgesinnte Ultras, andere bezeichnen sich als unpolitisch. Fakt ist: Ultras polarisieren. Die einen feiern sie für ihre beeindruckenden Choreos und den stimmgewaltigen Support bei den Spielen, die anderen sehen in der Subkultur eher gewaltbereite Schläger.

Die aktuelle Situation rund ums VfB-Stadion

Nun aber zum Problemfeld rund ums Stadion: Aus Sicht der aktiven Fanszene geht es an Heimspieltagen um Freiräume. Ganz nach dem Motto: Wir machen hier unser Ding, macht ihr eures. Das soll aber nicht bedeuten, dass die Ultras das Gewaltmonopol der Polizei nicht akzeptieren. Oder in und um die Arenen die immer wieder von Politikern und Polizeigewerkschaftlern heraufbeschworenen „rechtsfreien Räume“ entstehen. Vielmehr geht es um gegenseitigen Respekt. Eine massive Polizeipräsenz in der Nähe bestimmter Bereiche - wie zum Beispiel dem Materialraum der Stuttgarter Ultras in der Nähe des Carl-Benz-Centers - kann da als Provokation aufgefasst werden, was in den letzten Jahren in Stuttgart aber eigentlich nie zu Problemen geführt hat.

Die Ecke an den Treppen zur Sportsbar Palm Beach ist seit Beginn der Umbaumaßnahmen an der Arena der Bereich der Ultras. Die Polizei hielt sich davon in der Regel fern, beobachtete eher aus der Ferne. Es gab gewissermaßen eine unausgesprochene Übereinkunft: Läuft alles sauber ab, greifen wir nicht ein. Schließlich notiert sich die Polizei auch bei einem Aufmarsch der Antifa nicht jede dort geäußerte Beamtenbeleidigung. Stichwort: Fingerspitzengefühl.

Vor dem Pokalspiel gegen Union Berlin (31.10.) war das erstmals anders, die Polizeikräfte mit einem massiven Aufgebot vor Ort. Die Situation eskalierte jedoch nicht, verlief laut Schilderungen aus Fankreisen ohne Zwischenfälle. Zwei Wochen später vor dem Liga-Duell gegen Dortmund (11.11.) folgte dann jedoch die Konfrontation. Wieder postierten sich behelmte Beamte im Bereich vor dem Carl-Benz-Center, wieder gab es einen Austausch, nur eben dieses Mal mit Zwischenfällen.

Eskalation vor BVB-Spiel: Elf VfB-Fans in Gewahrsam

„Ziel der Fans war, dass die Polizei sich aus einem öffentlichen Bereich zurückzieht“, hieß es im Nachgang von der Polizei. Und Polizeipräsident Markus Eisenbraun schickte hinterher: „Wenn allein unsere Anwesenheit als Provokation verstanden wird, hat der Fußball ein Werteproblem.“ Am Ende der Eskalation landeten elf VfB-Fans im Gewahrsam, nachdem sie zuvor von der Polizei eingekesselt und Platzverweise ausgesprochen worden waren. Das habe nichts mit Fankultur zu tun, so Eisenbraun, sondern sei „der wiederholte Versuch einer Machtdemonstration im öffentlichen Raum“.

Während die Polizei ihre Einsatzstrategie verteidigte und dem VfB-Fanbeauftragten Christian Schmidt eine „einseitige Darstellung“ der Ereignisse vorwarf, äußerten die Ultragruppierungen des VfB in einer gemeinsamen Stellungnahme scharfe Kritik am Vorgehen der Polizei: „Es ist davon auszugehen, dass dies rein der Provokation der Fanszene diente und keine einsatztaktischen Gründe dahinterstanden.“ Alles gipfelte in der vorläufigen Aussetzung der sogenannten Stadionallianz – von Seiten der Polizei.

Die Ultras nahmen derweil den Einsatzleiter und stellvertretenden Stuttgarter Polizeipräsidenten Carsten Höfler in die Verantwortung, warfen ihm gar eine „private Vendetta gegen Fußballfans“ vor. Ihrer Ansicht nach erschien der Standort Stuttgart über die Jahre gesehen im Bundesvergleich im Spannungsfeld zwischen Fußballfans und Polizei eher ruhig. „Doch der Schein trügt: Vor allem seit Herr Höfler in Stuttgart in Amt und Würden ist, gibt es auch in Stuttgart wiederholt von der Polizei Stuttgart ausgehende Einsätze, die jegliches Maß vermissen lassen.“ Dem trat die Polizei scharf entgegen. Die „persönliche Diffamierung“ eines Einsatzleiters sei „nicht hinnehmbar“.

So weit, so verhärtet die Fronten.

Nun, nachdem sich die Pulverschwaden verzogen haben, kommt es direkt wieder zu einem sportlichen Kräftemessen mit dem BVB. Dieses Mal im Pokal – und die Partie am Mittwochabend (06.10.) ist von der Polizei „aufgrund des feindschaftlichen Verhältnisses der Fanszenen von Stuttgart und Dortmund“ erneut als sogenanntes „Hochrisikospiel“ deklariert worden.

„Für die Polizei bedeutet das, dass wir mit mehr Einsatzkräften als bei einem risikoärmeren Spiel im Einsatz sind. Des Weiteren halten wir besondere Einsatzmittel wie Wasserwerfer und Polizeidrohnen bereit, die lageangepasst zum Einsatz kommen können“, bestätigte ein Sprecher gegenüber unserer Redaktion vorab. Die Polizeipräsenz erstrecke sich dabei „grundsätzlich auf das gesamte Stadionumfeld und dabei insbesondere auf Orte, an denen es erfahrungsgemäß zur Vermischung von Heim- und Gästefans und zu Straftaten kommt“. Also - wie auch vor den letzten Heimspielen - rund um den Bereich am Carl-Benz-Center.

Kampf um die Deutungshoheit

Zwischen den Vorfällen rund um das Dortmund-Spiel und der nächsten Heimpartie lagen nun aber auch noch die schweren Krawalle mit mehr als 200 verletzten Personen rund um das Auswärtsspiel des VfB bei Eintracht Frankfurt. In die waren die Anhänger aus dem Schwabenland zwar in keiner Weise involviert, eine unfreiwillige Rolle spielten die VfB-Fans aber trotzdem. Schließlich sprach die Polizei in einer ersten via X (vormals Twitter) veröffentlichten Stellungnahme: „Auf dem Stadiongelände suchten rivalisierende Fangruppen zunächst die Eskalation untereinander.“ Eine Einschätzung, die sich schnell als falsch herausstellte - und 24 Stunden später revidiert wurde.

Der Hinweis habe auf einer „dynamischen Einsatzsituation“ basiert, die sich „auf eine falsche Bewertung des Geschehens“ gestützt habe. Alte Journalisten-Regel: Hast du keinen klaren Infostand, dann veröffentliche auch nichts. In Fankreisen vermutete manch einer anschließend ein gezieltes Framing. „Es bleibt der Eindruck, die Polizei nutzt Social Media bewusst taktisch, um die Kommunikationshoheit über Vorfälle zu erhalten. Wahrheitsgehalt zweitrangig“, hieß es im Nachgang in einem gemeinsamen Beitrag der aktiven VfB-Fanszene.

Die öffentliche Darstellung von Polizeieinsätzen rund um Fußballstadien gerät dabei allzu oft auch in einen Kampf um die Deutungshoheit. Auch für Berichterstattende eine anspruchsvolle Aufgabe, schließlich steht zu den Vorfällen meist Aussage gegen Aussage. Eine abschließende (und objektive) Bewertung fällt dementsprechend schwer.

Ebenfalls bleibt im Unklaren, warum sich die Situation zwischen Fans und Polizei – nicht nur in Stuttgart - gerade jetzt so dermaßen zugespitzt hat. Strafverteidiger René Lau ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Fananwälte und glaubt mit Blick auf die Vorfälle der letzten Wochen jedenfalls nicht an einen Zufall. Der Augsburger Allgemeinen sagte er: „Ich gehe davon aus, dass die Europameisterschaft im kommenden Jahr hier eine große Rolle spielt.“ Mit einer harten Vorgehensweise wollen Polizei und Politik, so Lau, ein Signal senden: „Bilder wie die vom Wochenende entfalten ja nicht nur in unserem Land eine Wirkung, sondern sollen auch als Abschreckung für europäische Fußball-Fans dienen.“

Dem widersprach der Frankfurter Polizeipräsident Stefan Müller auf einer Pressekonferenz zwei Tage nach den heftigen Ausschreitungen rund um das Waldstadion. Es handle sich hier um ein „Frankfurter Problem, das nichts mit besonderen Ereignissen an anderen Liga-Standorten zu tun hat“.

Der Blick nach vorne: Wie lässt sich Druck vom Kessel nehmen?

Und so bleibt abschließend die letztlich vielleicht entscheidende Frage: Wie lässt sich die Situation wieder entspannen? „Allem voran: Wir müssen verbal abrüsten“, forderte unlängst St.-Pauli-Präsident Oke Göttlich in einem klugen Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung: „Gemeinsam sollten wir einsehen, dass Maximalforderungen nichts bringen.“ Das „übergeordnete Ziel des gewalt- und repressionsfreien Stadionbesuchs“ müsse immer im Zentrum stehen – „sowie der Weg, wie es am besten zu erreichen ist“.

Seiner Ansicht nach geht das vor allem über das Modell der Stadionallianzen. Also genau jene Vorgehensweise, welche die Polizei in Stuttgart als Reaktion auf die Ereignisse vor dem BVB-Spiel öffentlichkeitswirksam ausgesetzt hat. „In Hamburg haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Behörden, Fans, Feuerwehr, Sanitätsdienste und Polizei sich vorab auf Augenhöhe begegnen und in den Dialog treten“, so Göttlich: „Das schafft Vertrauen und muss auch künftig in einer noch besseren Kommunikation münden.“ Warum hat man sich in der baden-württembergischen Landeshauptstadt zu einer anderen Strategie entschieden?

„Wir gehören zu den Gründungsvätern der sogenannten Stadionallianzen und sind von diesem Netzwerk seit Jahren überzeugt“, heißt es dazu auf Anfrage unserer Redaktion aus dem Stuttgarter Polizeipräsidium. Grundlage dieses Sicherheitskonzepts sei jedoch das „Vertrauen untereinander“. Man habe die Allianz „derzeit ausgesetzt“, von einer Kündigung könne nicht die Rede sein: „Wir befinden uns mit dem VfB Stuttgart bereits im Gespräch.“ Das bestätigte auch der Klub. Darüber hinaus will sich der VfB aber nicht zur aktuellen Situation äußern.

Die Polizei und ihre mitunter wenig hilfreiche Kommunikations- und Einsatzstrategie sind in dieser vertrackten Situation aber lediglich die eine Seite. Selbstredend müssen sich auch die Fans/Ultras hinterfragen sowie ihre Mitverantwortung anerkennen und auch annehmen. Oder wie es Oke Göttlich formuliert: „Wenn Fankultur freiheitlich ausgelebt werden soll, darf man sie nicht mit Füßen treten oder Gegenständen bewerfen, oder beinahe ritualisiert die Klos und Pinkelrinnen zerstören.“

„Jeder Euro, der in Prävention fließt, lohnt sich“

Eine kaum zu unterschätzende Rolle nimmt dabei die Arbeit der Fan-Projekte ein. Sie tragen seit Jahren nachweislich zur Reduzierung von Gewalt im Fußball bei. Und als Mann aus der Praxis weiß Göttlich: „Jeder Euro, der in Prävention fließt, lohnt sich - und ist nachhaltiger investiert als in immer größere Polizeiaufgebote.“

Ein weiterer wichtiger Aspekt wäre eine unabhängige Aufarbeitung von eskalierten Einsätzen. So gab es zum Beispiel im Jahr 2021 laut dem „Forschungsprojekt Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt/-innen“ 2790 Ermittlungsverfahren gegen Polizeikräfte wegen rechtswidriger Gewaltausübung im Dienst. In mehr als 90 Prozent der Verdachtsfälle wurden die Strafverfahren jedoch eingestellt - in nur zwei Prozent der Fälle wurde eine Anklage erhoben. 

Letztlich lässt sich die Situation wohl nur entspannen, wenn alle Konfliktparteien Schritte aufeinander zugehen, den Dialog suchen und das eigene Handeln kritisch hinterfragen. Interesse an einer weiteren Eskalation hat schließlich weder die eine noch die andere Seite.

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