Der beinahe unwirkliche VfB-Lauf: In Stuttgart erscheint derzeit nichts unmöglich
Ein Traumstart in der Bundesliga und dazu mit Serhou Guirassy ein Torjäger, der einen Rekord nach dem anderen abräumt: Der aktuelle Höhenflug des VfB Stuttgart hat beinahe unwirkliche Züge, ist aber mehr als eine Momentaufnahme. Ein Stimmungsbild aus Bad Cannstatt, wo derzeit nichts unmöglich scheint.
„Wolle“ Kriwanek statt Rammstein: Der VfB hat endlich eine Hymne
Dass der VfB über ein prächtige Heimspielstätte verfügt, ist bundesligaweit anerkannt und von unabhängigen Experten zweifelsfrei bestätigt. Eindrucksvolle Choreos, bedingungsloser Support selbst in noch so düsteren Saisonphasen und inzwischen gibt’s sogar Stuttgarter Bier im Stuttgarter Stadion. Und dennoch hat in der Kathedrale des schwäbischen Fußballs lange etwas gefehlt: Eine echte Hymne. Ein erster Funken, der die Zuschauer schon vor dem Anpfiff in Wallung bringt. Doch auch hier hat sich etwas getan.
Statt zu scheppernden Gitarrenriffs von Rammstein oder Metallica schreiten die modernen Gladiatoren mittlerweile zum stolzen Sound von Schwabenrocker Wolfgang „Wolle“ Kriwanek in die Arena: „Der ganze wilde Süden strahlt in Weiß und Rot. Der Neckar der wird weiterfließen, du wirst weiter Tore schießen: Vau eff Bee! Vau eff Bee!“ Und alles kulminiert im Schlachtruf, der die momentane Form der Mannschaft perfekt auf den Punkt bringt: „Stuttgart kommt! Stuttgart kommt!“
Fünf Spiele, zwölf Punkte, 17 geschossene Tore und Tabellenplatz drei: Das Team von Sebastian Hoeneß, das in der Vorsaison den Klassenerhalt erst in der Relegation klarmachen konnte, mischt die Bundesliga gehörig auf. Unbestritten reiten die Stuttgarter auf einer Euphoriewelle. Die Gründe für den Höhenflug sind vielschichtig. Da wären zum einen die offensichtlichen Faktoren wie Torjäger Serhou Guirassy, der sich wohl in der Form seines Fußballer-Lebens befindet.
VfB-Stürmer Guirassy knackt Lewandowski-Rekord
Er trifft mit rechts, mit links, mit dem Kopf, mal mit Gefühl, mal mit Gewalt. Kurz: Dem Goalgetter aus Guinea gelingt gerade alles. Oder wie es Darmstadt-Abwehrrecke Klaus Gjasula nach der Pleite seiner Mannschaft vom Freitagabend (22.09.) zähneknirschend einräumen musste: „Er legt den Ball mit der Hacke ab und daraus resultieren gute Torchancen, er haut die Dinger in den Winkel rein oder hebt den Ball über den Torwart und als Verteidiger tut das natürlich dann weh.“
Selbst Super-Stürmer Erling Haaland, immerhin Europas Fußballer des Jahres, kommt nach fünf Spieltagen in der englischen Premiere League „nur“ auf sieben Tore und nach sechs Partien auf acht. In der Bundesliga stellte Guirassy mit dem Doppelpack beim 3:1 gegen Aufsteiger Darmstadt sogar den Startrekord des früheren Bayern-Stürmers Robert Lewandowski ein, der in der Saison 2020/21 ebenfalls zehn Tore in fünf Spielen erzielt hatte.
Spontan-Party mit Dudelsackspieler vor dem Stadion
Der VfB macht seinen Fans auch dank ihrem „Serhooooouuuuu“ endlich wieder Spaß. Mancher aus dem leidgeprüften Anhang erkennt „seinen“ VfB angesichts des fast schon unwirklichen Laufs kaum wieder. In die wilden Jubelszenen nach dem Schlusspfiff mischte sich bei einer kleinen Spontan-Party vor der MHP-Arena sogar ein Dudelsackspieler – am Wasen erscheint derzeit nichts unmöglich, selbst die Tabellenführung hatten die Weiß-Roten für eine Nacht übernommen:
In der Landeshauptstadt werden sogar schon die ersten Stimmen laut, die Guirassy die Leitung der 21-Baustelle übertragen wollen. Bei seinem Lauf würde er den Zeitplan der Bahn für eine Eröffnung Ende 2025 wohl einhalten. Und nebenbei vermutlich auch noch ein paar Einsparmöglichkeiten finden.
Wie aus dem verunsicherten VfB eine schlagkräftige Truppe geworden ist
Bis auf Weiteres fühlt sich Guirassy aber auf dem Rasen in Bad Cannstatt deutlich wohler als in den Tunnelröhren unter dem Hauptbahnhof. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass die von Chefmechaniker Sebastian Hoeneß und seinem Team justierte VfB-Maschine derzeit einwandfrei läuft. Im April dieses Jahres hat der junge Coach eine bis ins Mark verunsicherte Truppe übernommen und allen Widrigkeiten des Abstiegskampfes und des Transfersommers zum Trotz eine schlagkräftige wie spielfreudige Truppe geformt.
Neben Guirassy stechen weitere Profis heraus. Torhüter Alexander Nübel zum Beispiel, aber auch das neu formierte Mittelfeldzentrum um Atakan Karazor und Angelo Stiller sowie der ewig fleißige (und mittlerweile auch offensiv mutige) Pascal Stenzel. Und da der neue Kapitän Waldemar Anton das Abwehrzentrum stabilisiert und Kreativmann Enzo Millot ganz wunderbar mit Guirassy harmoniert, hat der VfB endlich wieder eine funktionierende Achse auf dem Platz.
Gepaart mit einem machbaren Auftaktprogramm - auch Sportdirektor Fabian Wohlgemuth räumt ein: „Der Spielplan spielt uns schon ein bisschen in die Karten“ – ergibt sich das aktuell so stimmige Gesamtbild, das in der Analyse aber deutlich mehr zu sein scheint als eine Momentaufnahme.
Unter Hoeneß hat der VfB von 18 Spielen nur drei verloren
Dagegen spricht der Trend der letzten Monate. Unter Hoeneß hat der VfB von 18 Pflichtspielen nur drei verloren. Wirklich schlecht waren unter seiner Anleitung eigentlich nur das Spiel bei Hertha BSC Berlin im Mai (1:2) und die zweite Halbzeit gegen RB Leipzig Ende August (1:5). Die Amplituden-Mannschaft von einst hat sich zu einer stressresistenten wie offensivstarken und vor allem funktionierenden Gruppe entwickelt.
„Wir haben gerade einen Lauf, das wissen wir auch“, sagt Trainer Sebastian Hoeneß, „das ist nicht einfach so da, das haben wir uns erarbeitet.“ Und die guten Ergebnisse befeuern den positiven Trend. Hatte in den letzten Jahren jeder noch so kleine Rückschlag das gesamte Konstrukt ins Wackeln (manchmal auch zum Einsturz) gebracht, so wirft den Hoeneß-VfB nichts so einfach aus der Bahn.
„Wer macht den wilden Süden heiß? VfB! VfB!“
Weshalb die Verantwortlichen nun vor der Aufgabe stehen, die Euphoriewelle weiter zu reiten, ohne zu überdrehen. „Wir wollen keine Dynamik abwürgen und das kleinreden, was wir geschafft haben“, sagt Kaderplaner Wohlgemuth: „Aber die Balance ist schon wichtig. Wir haben noch 29 Spiele, das weiß auch jeder und alle sind geerdet genug, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.“
Damit die Fans auch in den kommenden Wochen anstimmen dürfen: „Wer macht den wilden Süden heiß? VfB! VfB! Wer macht's jedem Gegner schwer? VfB! VfB! Wo kommt im Land die Power her? VfB! VfB!“