Baden-Württemberg

Die große Erschütterung: Wie geht man im Landtag in Stuttgart mit der AfD um?

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Der Landtag in Stuttgart. © Gabriel Habermann

Eine rechtsextreme Partei auf dem Vormarsch: Bei den Landtagswahlen in Hessen wurde die AfD im Oktober 2023 zweitstärkste Kraft, in Bayern drittstärkste. Im Juni wurde erstmals ein AfD-Politiker Landrat, im Dezember ein AfD-Kandidat Oberbürgermeister. Ein bundesweites Umfragehoch beflügelt die rechtsextreme Partei zusätzlich – und all das, obwohl die AfD ihre Radikalität immer offener zur Schau stellt. Was macht das mit der Politik in unserem Land, mit der Debattenkultur? Wie wirken sich die jüngsten Erfolge und Umfrage-Ergebnisse aus? Wie geht man mit AfD-Politikern um?

All diese Fragen stellen sich auch angesichts der Kommunalwahlen, die 2024 in Baden-Württemberg anstehen. Die AfD drängt in die Gremien, will noch präsenter werden in den Gemeinden. Antworten darauf suchten wir dort, wo man jahrelange Erfahrung mit der rechtsextremen Partei hat: Im Landtag von Stuttgart, der Herzkammer der Landespolitik.

Einzug der AfD ins Parlament hat „politische Landschaft Deutschlands erschüttert“

"Die Anti-Flüchtlings-Partei AfD hat mit drastischen Gewinnen bei den Landtagswahlen die politische Landschaft Deutschlands erschüttert.“ Das stand im britischen „Guardian“ zu lesen, als die AfD 2016 mit 15,1 Prozent der Wählerstimmen drittstärkste Kraft in Baden-Württemberg wurde – und erstmals ins Parlament einzog.

Diese Erschütterung kann man noch heute spüren, wenn man Landtagsabgeordnete zur AfD befragt. Einigkeit herrscht unter den Befragten darüber, dass sich 2016 die Debattenkultur im Parlament verändert hat. Zum Schlechten. Das aktuelle Umfragehoch habe diese Situation höchstens noch ein wenig verschlimmert. Uneinig ist man sich bei der Frage: Wie wenig?

Hans-Ulrich Rülke (FDP): „Debattenkultur der AfD war noch nie gut“

„Die Debattenkultur der AfD war noch nie gut und erschöpft sich seit 2016 hauptsächlich darin, sich möglichst skandalisierend zu äußern und möglichst in jeder Debatte auf Flüchtlinge zu sprechen zu kommen“, sagt der FDP/DVP-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke (Wahlkreis Pforzheim). Durch das aktuelle Umfragehoch habe sich daran nichts geändert. „Nach der Landtagswahl 2021 hat der damalige Fraktionsvorsitzende Bernd Gögel, der mittlerweile aufgrund strafrechtlicher Ermittlungen um Schwarzarbeit zurückgetreten ist, sich bemüht, einen gemäßigteren Eindruck zu vermitteln. Abgesehen davon, dass AfDler sich mittlerweile nicht mehr von der Polizei aus dem Landtag tragen lassen, ist das aber nicht gelungen.“

Der letzte Satz spielt auf drei ehemalige Landtagsabgeordnete an: Im Dezember 2018 wurden der AfD-Abgeordnete Stefan Räpple und das damals schon fraktionslose AfD-Mitglied Wolfgang Gedeon von Polizisten aus dem Landtag geleitet. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) hatte die beiden nach beleidigenden Zwischenrufen des Saales verwiesen, sie weigerten sich aber zu gehen. Die Sitzung musste unterbrochen werden. Ein Eklat, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Räpple und Gedeon wurden später aus der Partei ausgeschlossen. Heinrich Fiechtner, der ebenfalls 2016 für die AfD ins Parlament eingezogen war, wurde 2020 gleich zweimal von Polizisten aus dem Landtag geleitet, einmal davon sogar getragen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits aus der AfD ausgetreten.

Das Parlament als Bühne: Reden werden für Social Media gehalten

Diese medienwirksamen Skandale sind nur die Spitze des Eisbergs. Im Gespräch berichten Abgeordnete der demokratischen Parteien von weiteren Entgleisungen, aggressivem Auftreten, Beschimpfungen und fehlendem Respekt. Muhterem Aras, die Landtagspräsidentin, müsse öfter eingreifen, seit die AfD mit im Landtag sitzt. Die Zahl der Ordnungsrufe ist gestiegen. Die AfD nutze das Parlament als Bühne.

„Die Grenzen des politischen Diskurses und des Sagbaren werden permanent ausgetestet“, sagt der CDU-Abgeordnete Arnulf Freiherr von Eyb (Wahlkreis Hohenlohe). „Vielfach entsteht auch der Eindruck, dass Reden in erster Linie nicht für das Plenum, sondern für die anschließende Verwertung im Netz gehalten werden.“ Eine Entwicklung, die in den letzten Jahren so auch in anderen Landesparlamenten und dem Bundestag zu beobachten war.

Social-Media-Strategie der AfD: Eigenwerbung und Feindmarkierung

Die AfD nutzt Social Media aber nicht nur für Eigenwerbung, sondern auch für „die gezielte Diffamierung einzelner Abgeordneter“, sagt von Eyb. „Diese verbalen Angriffe, die auch das intendierte Echo erzeugen, richten sich insbesondere gegen weibliche Abgeordnete mit Migrationshintergrund“, sagt er. Er erkenne darin eine klare Strategie. „Exemplarisch sind die Instrumentalisierung der Rede der Kollegin Tuncer durch den Kollegen Lindenschmid im Zuge der ‚Freibad‘-Debatte und die entsprechenden Reaktionen im Netz.“

Die grüne Landtagsabgeordnete Fadime Tuncer (Wahlkreis Weinheim) hatte im Sommer eine Rede über die Sicherheit in Freibädern gehalten. Der AfD-Abgeordnete Daniel Lindenschmid (Wahlkreis Backnang) kürzte diese Rede zusammen, unterlegte sie mit lächerlich wirkender Musik, setzte einen Clown-Emoji aufs Video und veröffentlichte das Ergebnis auf Social Media. Tuncer wurde in den Kommentaren daraufhin misogyn und rassistisch beleidigt, auch Tötungs- und Vergewaltigungsfantasien wurden geäußert. Die Staatsanwaltschaft prüft mehr als tausend Kommentare auf Strafbarkeit, die Ermittlungen dauern an.

Besucher fragen: „Ist die AfD immer so aggressiv?“

Während viele der Befragten wie schon Hans-Ulrich Rülke keinen nennenswerten Einfluss aktueller Umfragen auf das Verhalten der AfD sehen, gibt es manche, die widersprechen. Die Partei befinde sich durch aktuelle Umfragen im Aufwind, trete selbstbewusster und aggressiver auf, sagt beispielsweise ein grüner Landtagsabgeordneter, der namentlich nicht genannt werden will. „Ich finde, das ist auch in den Landtagsdebatten zu spüren“. Der Grünen-Abgeordnete macht vor allem die „neueren, jüngeren“ Abgeordneten für eine weitere Radikalisierung verantwortlich, die sich beispielsweise in immer offenerer Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zeige.

„Durch das aktuelle Umfragehoch der AfD sowie die Wahlergebnisse in Hessen und Bayern ist der Auftritt in Teilen noch ein Stück weit aggressiver geworden“, sagt auch der CDU-Abgeordnete Albrecht Schütte (Wahlkreis Sinsheim). Bei einer besonders heftigen Plenardebatte Ende September habe er eine Besuchergruppe zu Gast im Landtag gehabt. „Ist die AfD immer so aggressiv?“ sei danach die erste Frage im Abgeordnetengespräch gewesen.

Justizministerin Gentges (CDU): „Es fallen Sätze wie ‚Wenn wir dann regieren …‘“

Die AfD vermittle aktuell den Eindruck, „im Grunde für die Gesamtbevölkerung zu sprechen“, sagt die Ministerin für Justiz und Migration, Marion Gentges (CDU, Wahlkreis Lahr). „Stärkste politische Kraft zu werden, erscheint vielen AfD-Vertretern sicher. Es fallen Sätze wie ‚Wenn wir dann regieren …‘ oder ‚Wenn wir dann die Regierung stellen …‘. Auch der CDU-Landtagsabgeordnete Wolfgang Reinhart (Wahlkreis Main-Tauber) beobachtet, dass die AfD verstärkt auf ihre Umfragewerte hinweise.

Andreas Stoch (SPD): „Wir dürfen die AfD nicht als normal behandeln“

Alles schon mal da gewesen, sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Stoch (Wahlkreis Heidenheim). Schon während die AfD im Umfragen noch bei 10 Prozent lag, habe die Partei laut über die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung gesprochen. „Allmachtsfantasien, dass sie dann den ‚Laden mal aufräumen‘, solche Sätze kommen ab und zu vor“, sagt Stoch. Der SPD-Politiker hat jahrelange Erfahrung im Umgang mit der AfD. Ein Patentrezept hat er bis heute nicht.

„Wir dürfen die AfD nicht als normal behandeln, das ist inzwischen allen klar“, sagt Stoch. Man müsse auch nicht „über jedes Stöckchen springen“, wenn die Partei wieder mal provoziert. „Wenn die AfD in der Debatte Blödsinn erzählt, muss man in gebotener Deutlichkeit widersprechen, aber nicht zu viel eigene Redezeit aufbrauchen, um die AfD zu widerlegen.“ So sieht es auch die CDU-Abgeordnete Christine Neumann-Martin (Wahlkreis Ettlingen): „Manche Kollegen nutzen ihre halbe Redezeit für eine Abrechnung mit der AfD das aber nichts bringt.“

„Empörungsdilemma“: Wie stark muss man auf die AfD eingehen?

Die Journalistinnen Katja Bauer und Maria Fiedler nannten das in ihrem Buch „Die Methode AfD“ das „Empörungsdilemma“: Die AfD provoziere bewusst, wolle „Empörung auslösen“. Die anderen Parteien müssen sich aber ein Stück weit darauf einlassen, weil sie Tabubrüche durch Abgeordnete der AfD nicht unkommentiert stehen lassen können – sonst wirkt am Ende das, was gesagt wurde, wie ein normaler, tolerierbarer Beitrag zur Debatte.

„Das ist in den Debatten oft ein schmaler Grat – einerseits ist es wichtig, der AfD argumentativ die Stirn zu bieten, andererseits will ich mit eigenen Argumenten nicht den Eindruck erwecken, als handle es sich bei provokativen Auslassungen um diskutable Argumente“, sagt der SPD-Abgeordnete Gernot Gruber (Wahlkreis Backnang). „Das beste Mittel ist hier, sich mit eigenen Argumenten und Lösungsideen direkt an die Bürgerinnen und Bürger zu wenden und sie zu überzeugen“, so Gruber. Andere Abgeordnete sehen das ähnlich.

„Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass bei den Menschen, die die AfD bedient, kein Interesse daran besteht, was wir darauf antworten“, sagt Andreas Stoch. Stichwort Parlament als Bühne: Die AfD spiele Landtagsreden in „Videoschnipseln“ auf Social Media aus, so der SPD-Fraktionsvorsitzende. „Können wir dort überhaupt wirksame Handlungsweisen entwickeln, um das Phänomen zu bekämpfen? Da sehe ich bisher ein großes Fragezeichen.“ Auch der Abgeordnete der Grünen ist skeptisch: „Ich weiß gar nicht, ob man im Landtag etwas ändern kann“, sagt er. „Es gibt vier Fraktionen, die sich wirklich verpflichtet fühlen, die parlamentarischen Spiegelregen einzuhalten. Und eine Fraktion, die das halt gezielt unterläuft.“

Unruhe im Landtag: Reichsbürger-Feindesliste und Causa Udo Stein

Auch wenn die große Erschütterung, der Einzug der AfD, schon Jahre her ist, gibt es weiterhin erschütternde Vorfälle. Im Dezember berichtete der „Spiegel“ über eine mutmaßliche Feindesliste, die bei dem Terror-Verdächtigen Marco v. H. gefunden wurde. Er gilt als führendes Mitglied der Reichsbürger-Gruppe um Prinz Reuß, die einen gewaltsamen Umsturz geplant haben soll. Auf dieser Liste fand sich nach unseren Recherchen neben Hans-Ulrich Rülke (FDP) noch mindestens ein weiterer Landtagsabgeordneter.

Im Juni sorgte der AfD-Abgeordnete Udo Stein (Wahlkreis Schwäbisch Hall) für Schlagzeilen. Stein wurde nach mehreren Vorfällen in der Psychiatrie behandelt, sein Haus und seine Jagdhütte durchsucht, Waffen beschlagnahmt. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen diverser Delikte gegen ihn, darunter Verstoß gegen das Waffengesetz, tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte, Amtsanmaßung und das Vortäuschen einer Straftat. Es gilt die Unschuldsvermutung. Sein Anwalt, der Stuttgarter CDU-Landtagsabgeordnete Reinhard Löffler, hält ihn für nicht schuldfähig.

Im Zusammenhang mit den Ermittlungen wurde auch ein Rucksack im Landtagsbüro von Udo Stein sichergestellt. Darin befanden sich laut einem Bericht der Stuttgarter Zeitung ein Jagdmesser und Munition. Die Berichte über Stein führten zur Unruhe im Landtag – und zu einer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Mittlerweile ist Ruhe eingekehrt. Der allgemeine Tenor: Die Sicherheitsbehörden haben im Landtag umfassend über die Situation aufgeklärt, eine Gefahr bestehe in diesem Zusammenhang aktuell nicht.

„Grenzverletzung“: Rechtsextremisten in der Herzkammer der Demokratie

Bereits im Mai betragt mit Michael S. ein rechtsextremer Aktivist und führender Kader der Identitären-Gruppe „Wackre Schwaben“, den Landtag von Baden-Württemberg. Mittlerweile wird gegen ihn in anderem Zusammenhang wegen Volksverhetzung ermittelt. Bei einer Veranstaltung der AfD-Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ ließ S. sich mit AfD-Fraktionschef Anton Baron (Wahlkreis Hohenlohe) ablichten. Baron nannte das gegenüber dem SWR ein „Missgeschick“. Die demokratischen Parteien zeigten sich empört. Und sind es bis heute. Dass die AfD „Verfassungsfeinden Zugang zum Zentrum der baden-württembergischen Demokratie“, sei eine „Grenzverletzung“, die er „aufs Schärfste verurteilte“, sagt Arnulf Freiherr von Eyb (CDU).

Der Vorfall wirft eine zentrale Frage auf, die sich auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Stoch stellt: „Die Frage, wen bringen die eigentlich ins Parlament?“ Die Möglichkeit, Besucher in den Landtag mitzubringen oder Mitarbeiter einzustellen, sei ein „neuralgischer Punkt“, ein Parlament dürfe hier nicht schutzlos sein. „Wir alle kennen die Bilder aus dem Bundestag, wo Abgeordnete bedrängt werden.“ Er spielt auf Querdenker an, die den Bundestag 2020 als Gäste der AfD betraten und dort für einen Eklat sorgten. Es war nicht der einzige kritische Vorfall, der mit der AfD im Zusammenhang steht.

Sicherheitsinteressen: „Das hat etwas mit dieser AfD zu tun“

Im Fall der mutmaßlichen Reichsbürger-Terrorgruppe um Prinz Reuß gehen die Ermittler laut „Spiegel“ mittlerweile davon aus, dass die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann drei ihrer mutmaßlichen Mitverschwörer ins Parlament schleuste. Darunter ein ehemaliger Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK). Der Ex-KSKler soll dabei Videos angefertigt haben „von einem unterirdischen Zugang zum Reichstagsgebäude und vom Inneren des Plenarsaals.“ Ziel der Gruppe sei ein bewaffnetes Eindringen ins Parlament gewesen. „Ihren mutmaßlichen Mitverschwörern soll Malsack-Winkemann per Chat erklärt haben, dass die Mitglieder der Regierung stets auf der linken Seite des Rednerpults säßen.“

Berlin ist von Baden-Württemberg mehrere hundert Kilometer entfernt. Die Abgeordneten gehen nicht in Angst durch den Landtag, das wurde in den Gesprächen mit ihnen deutlich. Aber sie verfolgen wachsam, was um sie herum passiert. „Ja, wir müssen die Sicherheitsinteressen aller, Abgeordneter, Beschäftigter und Besucher im Blick haben“, sagt Andreas Stoch. „Und ja, das hat etwas mit dieser AfD zu tun.“

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